Das BVerfG hat heute eine wegweisende Entscheidung zu Europa getroffen:
Hier die Pressemitteilung:
Bundesverfassungsgericht</big> - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 72/2009 vom 30. Juni 2009
Urteil vom 30. Juni 2009
– 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09 –
Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon mit Grundgesetz vereinbar;
Begleitgesetz verfassungswidrig, soweit Gesetzgebungsorganen keine
hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden</big>
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute entschieden,
dass das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz
vereinbar ist. Dagegen verstößt das Gesetz über die Ausweitung und
Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in
Angelegenheiten der Europäischen Union insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Bundestag und Bundesrat im Rahmen
von europäischen Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren keine
hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden. Die
Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von
Lissabon darf solange nicht hinterlegt werden, wie die von Verfassungs
wegen erforderliche gesetzliche Ausgestaltung der parlamentarischen
Beteiligungsrechte nicht in Kraft getreten ist. Die Entscheidung ist im
Ergebnis einstimmig, hinsichtlich der Gründe mit 7:1 Stimmen ergangen
(zum Sachverhalt vgl. Pressemitteilungen Nr. 2/2009 vom 16. Januar 2009
und Nr. 9/2009 vom 29. Januar 2009).
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Zentrale Gesichtspunkte des Urteils im Überblick
Das Urteil konzentriert sich auf den Zusammenhang zwischen dem vom
Grundgesetz vorgeschriebenen demokratischen System auf Bundesebene und
dem erreichten Niveau selbständiger Herrschaftsausübung auf europäischer
Ebene. Das Strukturproblem der Europäischen Union wird in den
Mittelpunkt der Verfassungsprüfung gestellt: Der Umfang politischer
Gestaltungsmacht der Union ist - nicht zuletzt durch den Vertrag von
Lissabon - stetig und erheblich gewachsen, so dass inzwischen in einigen
Politikbereichen die Europäische Union einem Bundesstaat entsprechend -
staatsanalog - ausgestaltet ist. Demgegenüber bleiben die internen
Entscheidungs- und Ernennungsverfahren überwiegend völkerrechtsanalog
dem Muster einer internationalen Organisation verpflichtet; die
Europäische Union ist weiterhin im Wesentlichen nach dem Grundsatz der
Staatengleichheit aufgebaut.
Solange im Rahmen einer europäischen Bundesstaatsgründung nicht ein
einheitliches europäisches Volk als Legitimationssubjekt seinen
Mehrheitswillen gleichheitsgerecht politisch wirksam formulieren kann,
bleiben die in den Mitgliedstaaten verfassten Völker der Europäischen
Union die maßgeblichen Träger der öffentlichen Gewalt, einschließlich
der Unionsgewalt. Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat
wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein
erklärter Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne
Staatlichkeit einherginge. Ein solcher Akt liegt hier nicht vor. Die
Europäische Union stellt weiterhin einen völkerrechtlich begründeten
Herrschaftsverband dar, der dauerhaft vom Vertragswillen souverän
bleibender Staaten getragen wird. Die primäre Integrationsverantwortung
liegt in der Hand der für die Völker handelnden nationalen
Verfassungsorgane. Bei wachsenden Kompetenzen und einer weiteren
Verselbständigung der Unionsorgane sind Schritt haltende Sicherungen
erforderlich, um das tragende Prinzip der begrenzten und von den
Mitgliedstaaten kontrollierten Einzelermächtigung zu wahren. Auch sind
eigene für die Entfaltung der demokratischen Willensbildung wesentliche
Gestaltungsräume der Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration zu
erhalten. Insbesondere ist zu gewährleisten, dass die
Integrationsverantwortung durch die staatlichen Vertretungsorgane der
Völker wahrgenommen werden kann.